Zurück

Der wirtschaftliche Jahresrückblick

Krieg und Krisen prägen das Wirtschaftsjahr 2022: Energiepreise, Inflation und Fachkräftemangel bringen Staat, Unternehmen und Verbraucher:innen an neue Grenzen. Doch dadurch beschleunigen sich dringend notwendige Transformationsschritte, analysiert Wirtschaftsjournalist Manuel Heckel.

In den ersten 55 Tagen in diesem Jahr herrscht noch so etwas wie vorsichtiger Optimismus im Land: Einigermaßen schienen Gesellschaft und Wirtschaft durch den zweiten Corona-Winter gekommen zu sein, die Hoffnung auf Nachholeffekte etwa bei Konsum oder Reisen war groß. Dann, am 24. Februar, überfällt Russland die Ukraine. Der Angriffskrieg prägt auch die deutsche Wirtschaft. Welche Auswirkungen spüren Verbraucher:innen und Unternehmen? Und wie reagiert der Staat auf diese Herausforderungen?

Weg vom Gas – aber wie?

Die Energiepreise reagieren direkt: 2021 stammten 55 Prozent aller deutschen Gaslieferungen aus Russland. Mit der umstrittenen Ostsee-Pipeline Nordstream 2 steht eine weitere Versorgungslinie zu Jahresbeginn vor der Fertigstellung – kurz nach Kriegsbeginn spricht sich die Politik gegen das Projekt aus, die Betreibergesellschaft meldet daraufhin Insolvenz an und entlässt all ihre Mitarbeitenden. Es geht nun darum, die Abhängigkeit vom russischen Gas im Eiltempo zu verringern. Im ersten Schock aber schrauben sich die Preise in schwindelerregende Höhen, in der Spitze liegen sie an den Energiebörsen beim zehnfachen des Wertes aus dem Herbst 2021. Das verunsichert nicht nur energieintensive Industriebetriebe.

Auch private Verbraucher:innen reagieren im Frühjahr besorgt. Einige hatten bereits in den Wochen zuvor Kündigungen ihrer Energieversorger erhalten, die mit Discount-Angeboten gelockt hatten. Im Laufe des ersten Halbjahres werfen weitere Anbieter das Handtuch – und für Verbraucher:innen vervielfachen sich die Abschlagzahlungen für Gas und Strom. Eine erste Reaktion: Das Interesse an erneuerbaren Energien explodiert. Zahlreiche Haushalte wollen sich Photovoltaik-Anlagen aufs Dach setzen, auch Wärmepumpen werden deutlich stärker nachgefragt. Fehlende Chips und fehlende Fachkräfte sorgen jedoch dafür, dass sich viele Sanierungsprojekte frühestens im Frühjahr 2023 realisieren lassen – eine teure Heizperiode später.

Mehr Wirbel bei Windkraft und Co.

Auch die Regierung sucht intensiv nach alternativen Energiequellen. Fündig wird die Ampel-Koalition u. a. am Arabischen Golf. Katar soll künftig Flüssiggas liefern – eine vergleichsweise teure alternative Energiequelle, die durch den massiv gestiegenen Preis des Erdgases nun attraktiver wirkt als zuvor. Doch bis weit in den Herbst hinein wird zwischen SPD, Grünen und FDP darum gestritten, wie der kurzfristige Energiemix Deutschlands aussieht. Am Ende entscheidet Kanzler Olaf Scholz mit einem Machtwort: Drei Atomkraftwerke sollen einige Monate länger in Betrieb bleiben als geplant, zwei Braunkohlekraftwerke werden sogar bis 2024 Strom liefern. Das soll die Energieversorgung auch in windstillen Nächten garantieren – und den Preis pro Kilowattstunde drücken.
Eine Generationenaufgabe bleibt der Umbau hin zu erneuerbaren Energien. Der Trend stimmt jedoch: Im ersten Halbjahr 2022 liegt der Anteil von erneuerbaren Energien am Brutto-Stromverbrauch bei 49 Prozent, im Vorjahreszeitraum waren es 41 Prozent. Bis 2030 soll der Wert auf 80 Prozent steigen, so das Ziel der Bundesregierung.

Stabiler Arbeitsmarkt, steigende Preise

Die gute Nachricht: Die deutsche Wirtschaft manövriert sich einigermaßen stabil durch das Jahr. In den ersten drei Quartalen des Jahres steigt das Bruttoinlandsprodukt sogar. Die Arbeitslosenquote schwankt das gesamte Jahr über um fünf Prozent, ohne extreme Ausschläge nach oben. Trotz Krisenstimmung entlassen viele Unternehmen vorerst nur zögerlich – oder die Gekündigten finden schnell eine neue Stelle. Im zweiten Quartal des Jahres vermeldet das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung sogar ein Allzeithoch von 1,93 Millionen an nicht besetzten Arbeitsplätzen.

Ein anderes Problem wird im Jahresverlauf immer präsenter: Die Inflationsrate in Deutschland steigt von 4,9 Prozent im Januar auf über zehn Prozent im Herbst – das Ziel der Europäischen Zentralbank (EZB) liegt bei zwei Prozent. Neben den Energiepreisen treiben alltägliche Lebensmittel die Teuerung: Speiseöle kosten fast 50 Prozent mehr als im Vorjahr, für Brot bezahlen Verbraucher:innen bis zu 20 Prozent mehr, meldet das Statistische Bundesamt im November.
Besonders hart trifft es Gastronomen. Die Betreiber:innen hatten gerade die Einschnitte der Corona-Jahre hinter sich gebracht. Nun sind sie gezwungen, die Preise zu erhöhen. Dabei spüren sie ohnehin schon die Zurückhaltung der Bevölkerung, die stärker auf ihre Ausgaben achtet. In Supermarktregalen bleiben die Preisschilder zwar bei einigen Produkten unangetastet, dafür haben die Packungen aber plötzlich weniger Inhalt. Verbraucherschützer prangern diese sogenannte „Shrinkflation“ an.

Zinswende sorgt für Turbulenzen bei den Anlegern

Im Juli folgt eine Entscheidung, die Kommentierende als „historisch “ bezeichnen: Nach acht Jahren ist der Leitzins der EZB erstmals wieder positiv. In schnellen Schritten steigt dieser sogar auf zwei Prozent. Auch auf normalen Tagesgeldkonten gibt es wieder etwas mehr als eine homöopathische Verzinsung. Die Aktienkurse – ohnehin unter Druck durch die unstete geopolitische Lage – geben dagegen nach. Im Jahresverlauf sinkt der DAX von 16.000 auf unter 12.000 Punkten Ende September, berappelt sich zum Jahresende aber wieder.
Eine andere Seite der Zinswende-Medaille ist ebenfalls problematisch für viele Menschen: Noch im Januar konnten sich Käufer:innen von Häusern und Wohnungen einen Kredit zu einem Zinssatz von etwa einem Prozent sichern – im Herbst sind vier Prozent und mehr Standard. Raten sind so mehrere hundert Euro teurer pro Monat und lässt zahlreiche Kaufverträge platzen – weil Familien fürchten, die Finanzierung nicht langfristig stemmen zu können. In einigen Regionen beginnen die Kaufpreise für Immobilien zu sinken. Doch das grundsätzliche Problem, das Wohnraum in begehrten Lagen fehlt, löst sich allein durch die Zinswinde nicht auf. Steigende Baukosten verteuern neue Projekte zusätzlich.

Doppel-Wumms und neue Ideen

Im September verstaatlicht der Bund den größten deutschen Gasimporteur Uniper, um eine Kettenreaktion an insolventen Energieversorgern zu verhindern. Schon im Frühsommer wird in den ersten „Entlastungspaketen “ der Ampel-Regierung eine Energiepauschale in Höhe von 300 Euro beschlossen, die versteuert werden muss. Für drei Monate subventioniert der Staat die Steuer auf Kraftstoffe. Für hitzige Diskussionen sorgt das 9-Euro-Ticket: Für diesen Monatspreis sind alle Fahrten im öffentlichen Nahverkehr inklusive. Das sorgt auf der einen Seite für übervolle Züge und bringt die ohnehin strauchelnde Bahn an die Belastungsgrenze. Auf der anderen Seite werden Pendler:innen massiv finanziell entlastet – und einige Urlaubsfahrten für Menschen ohne große Rücklagen möglich.

Das Nahverkehrsticket soll sogar in die Fortsetzung gehen, wenn auch zu einem höheren Preis. Als „Deutschlandticket“ soll es für 49 Euro in den ersten Monaten des Jahres 2023 erhältlich sein. Und könnte so eine dringend benötigte Transformation im Land, zumindest in den städtischen Regionen, beschleunigen: Dass mehr Menschen von der Straße auf die Schiene wechseln. Dazu müssten jedoch Investitionen in die Infrastruktur folgen, um das Angebot besonders in ländlichen Regionen zu erweitern.

Drohende Szenarien trotz „Doppel-Wumms“

Im Herbst legt die Bundesregierung an anderer Stelle nach: Eine teure Bremse für Strom- und Gaspreise soll Unternehmen und Verbraucher:innen bei den Energiekosten entlasten – Bundeskanzler Scholz spricht vom „Doppel-Wumms“. Ohnehin ist in vielen Haushalten Energiesparen schon zum Volkssport geworden: Ein milder Oktober hilft dabei, die Heizung daheim länger auszulassen und wassersparende Duschköpfe werden zum Verkaufsschlager.
Gleichzeitig mehren sich mit den dunklen Tagen einige düstere Nachrichten: Die Zahl der Firmenpleiten steigt im Oktober laut vorläufiger Daten des Statischen Bundesamtes deutlich an. Und der Sachverständigenrat der Bundesregierung geht für das Jahr 2023 von einer „milden“ Rezession aus – also einem leicht schrumpfenden Bruttoinlandsprodukt. Die Transformation ist in vollem Gange: „Deutschland muss sich an die neue Realität anpassen“, sagt Ökonomin Veronika Grimm.

Tipp

Material des Monats: Vom Boom zur Flaute und wieder zurück – wie steht es um die deutsche Wirtschaft?

Alle Artikel aus der Rubrik "Aktuelles" im Überblick