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Staatsverschuldung – Darf’s ein bisschen mehr sein?

Bis zum Jahresende dürfte die deutsche Staatsverschuldung auf 2,5 Billionen Euro ansteigen. Investitionen auf Pump stimulieren die Wirtschaft und dämpfen konjunkturelle Schwächen ab – doch gleichzeitig verringert sich der Spielraum für kommende Generationen. Die Herausforderung: Je mehr Krisen sich überlagen, desto schwieriger lässt sich die Wirkung von Ausgaben nachvollziehen, analysiert Wirtschaftsjournalist Manuel Heckel in Anlehnung an das Material des Monats.

Die Uhr tickt – und wie: Um 3.817 Euro schnellt die Schuldenuhr pro Sekunde nach oben. Das bedeutet: In der Zeit, die benötigt wird, um diesen Text zu lesen, wird sich die deutsche Staatsverschuldung um eine gute Million Euro rechnerisch vergrößert haben. Auf Webseiten und physisch vor der Zentrale des Interessenverbandes Bund der Steuerzahler Deutschlands in Berlin lässt sich so erkennen, wie stark das Defizit Deutschlands zunimmt. Expert:innen gehen davon aus, dass Deutschland dieses Jahr etwa 118 Milliarden Euro neue Schulden macht.

Die Uhr ist ein Symbol. Und auf den ersten Blick scheint die Rechnung einfach: Ein Staat kann Einnahmen generieren, überwiegend durch Steuern. Dagegen laufen die Ausgaben für Soziales, Verteidigung, Infrastruktur, Pensionen – und Zinsen auf das geliehene Geld. Über die genaue Balance der Bilanz wird oft heftig gestritten, gerade auch wieder in der Bundesregierung: Mehrere Minister:innen melden einen höheren Bedarf und neue Vorhaben für den kommenden Bundeshaushalt an – Finanzminister Christian Lindner (FDP) plant dagegen ein milliardenschweres Sparpaket. Auch in den USA oder zwischen der EU und Mitgliedsstaaten wie Italien oder Griechenland geht es immer wieder um die Frage, wie hoch der staatliche Schuldenberg werden darf.

Alte Theorien, aktuelle Belastungen

Denn tatsächlich wird es komplizierter, wenn man auf das Phänomen Staatsverschuldung blickt. Verschlechtert sich die wirtschaftliche Lage in einem Land, können Staatsausgaben mehrere wichtige Wirkungen erfüllen. Subventionen, Steuererleichterungen oder Direktzahlungen dämpfen den Einkommensverlust von Verbraucher:innen, aktuelles Beispiel ist die viel diskutierte Gaspreisbremse. Zudem sorgen staatliche Investitionen dafür, dass bestimmte Branchen auch in Krisenzeiten Aufträge haben und Beschäftigte brauchen – häufig geht es dabei um Infrastrukturvorhaben, wie den Bau von Straßen oder Bahnstrecken.

Dieses Konzept geht zurück auf den britischen Ökonomen John Meynard Keynes, der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wirkte. Sein Kalkül: Der Staat verschuldet sich zwar, bringt mit seinen zusätzlichen Ausgaben jedoch die Wirtschaft wieder in Schwung. Zeitversetzt zahlen sich diese Investitionen dann über höhere Steuereinnahmen zurück. Das Problem: Damit die Theorie funktioniert, muss in wirtschaftlich guten Jahren kräftiger gespart werden – die sogenannte antizyklische Wirtschaftspolitik.

In der Realität sind die Anreize zum Sparen für den Staat jedoch eher gering. Erstens kommen Kürzungen schlecht bei den Wähler:innen an. Zweitens ist die Gefahr einer tatsächlichen Staatspleite für ein Land wie Deutschland kurzfristig unwahrscheinlich: Dazu müssten die Gläubiger des Landes – dazu gehören andere Länder, Finanzinstitute, aber auch deutsche Bürger:innen – ihr Geld radikal zurückfordern, würden sich aber selbst dadurch in eine katastrophale Situation manövrieren.

Vertreter:innen der sogenannten Modern Monetary Theory plädieren daher für nahezu ungebremste Ausgaben, um Staaten heute für die Herausforderungen der Zukunft fitzumachen. Ihr Kalkül: Hohe Investitionen in Infrastruktur oder Bildungssysteme heute sind dringend nötig, um die Länder auf übermorgen vorzubereiten. Als Beispiel, dass diese Ausgabenpolitik funktioniert, führen sie etwa Japan an. Dort liegt die Staatsverschuldung bereits heute bei über 250 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) – und doch rechnet kaum jemand ernsthaft damit, dass das Land zahlungsunfähig wird.

Doch natürlich ist die Gefahr eines Staatsbankrotts nicht generell auszuschließen: Entziehen Gläubiger einem Land das Vertrauen, brechen staatliche Systeme und Infrastruktur rasch zusammen. Das beginnt bei geschlossenen Rathäusern, führt über immer marodere Verkehrswege und kann bis hin zu innerpolitischen Unruhen führen. Vor einem guten Jahrzehnt machte Griechenland eine solche Krise durch.

Neue Ausnahmen für immer neue Ausgaben

Deutschland hat im vergangenen Jahrzehnt seine Hausaufgaben gemacht. Im Jahr 2009 wurde die sogenannte „Schuldenbremse“ im Grundgesetz verankert. Diese verpflichtete Bund und Länder, in den Folgejahren ausgeglichene Haushalte vorzulegen, ohne Kredite aufzunehmen. In Kombination mit sprudelnden Steuereinnahmen der 2010er-Jahre gelang es, den Verschuldungsgrad Deutschlands deutlich zu drücken. Von über 80 Prozent im Vergleich zum BIP im Jahr 2013 sank er auf knapp unter 60 Prozent zum Jahresbeginn 2020.

Mit der Pandemie, dem zwei Jahre später folgenden Angriffskrieg auf die Ukraine und deren Folgen mussten jedoch wieder erhebliche Ausgaben getätigt werden. Zum Jahresende 2022 war der Verschuldungsgrad so wieder auf etwa 66 Prozent des BIPs hervorgeschnellt. Und die nächste finanzpolitische Herausforderung ist ebenfalls da: Weil die Europäische Zentralbank die Leitzinsen erhöht, um die Inflation in den Griff zu kriegen, muss auch Deutschland höhere Zinsen leisten, wenn es sich Geld leiht.

Sorge vor der langfristigen Lähmung

Die Schuldenregeln des Bundes sehen Investitionen, die mit neuer Verschuldung einhergehen, bei außergewöhnlichen Ereignissen durchaus vor. Unklar ist, wie zügig der Staat nach seinen eigenen Vorschriften wieder zum ausgeglichenen Haushalt zurückkehren muss. Mit buchhalterischen Tricks rechnete sich die Regierung etwa manche Ausgabe schön: Teure neue Töpfe wie das „Sondervermögen Bundeswehr“ oder der „Wirtschaftsstabilisierungsfonds“ wurden außerhalb des Bundeshaushalts geparkt. Der Bundesrechnungshof kritisierte diese Praxis und forderte, dass „die Entkernung des Bundeshaushalts durch die Flucht in Sondervermögen rückgängig gemacht werden“.

Die Spar-Kommissar:innen sehen die große Gefahr, dass dem Staat finanziell die Luft ausgeht, wenn bald beispielsweise der absehbare Demografieeffekt voll zuschlägt: Immer weniger junge Menschen arbeiten und zahlen in die Sozialsysteme ein, immer mehr alte Menschen müssen finanziell versorgt werden. Auch die Anpassung an den Klimawandel dürfte den Staat in Zukunft deutlich stärker fordern als heute. „Um einen drohenden Kontrollverlust bei den Bundesfinanzen zu verhindern, muss der Bund die Dynamik der Neuverschuldung stoppen“, lautet die eindeutige Forderung der Rechnungsprüfer:innen.

Die goldene Regel und der Blick in die Glaskugel

Um die Balance zu finden, wird in der Finanzpolitik häufig die sogenannte „Goldene Regel“ angestrebt. Die besagt, dass eine Neuverschuldung nur in dem Maße erfolgen darf, in dem sie das grundsätzliche Netto-Vermögen eines Staates erhöht – also einen Wertzuwachs für die Zukunft schafft. Ein theoretisches Beispiel: Wenn ein Staat heute Schulden macht, um die Quantenforschung zu verbessern, profitiert er in Zukunft von hervorragend ausgebildeten Fachkräften und Steuereinnahmen von Technologieunternehmen. „Die Goldene Regel der Finanzpolitik soll insbesondere verhindern, dass die aktuelle Generation auf Kosten künftiger Generationen wirtschaftet“, formuliert es das Bundesfinanzministerium.

Das große Problem: Geht es um die Frage, wie sinnvoll heutige Ausgaben für morgige Einnahmen sind, handelt es sich immer ein Stück weit um einen Blick in eine Glaskugel. Falsch oder richtig ist bei dem Ausmaß der Staatsverschuldung fast immer die Frage des wirtschaftspolitischen Standpunktes – und der persönlichen Perspektive auf die Zukunft.

Tipp

Material des Monats: Staatsverschuldung: Fluch oder Segen?

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