Zurück

Verhaltensökonomik – Warum wir morgen nicht immer das machen, was wir uns heute vornehmen

Warum nehmen sich viele Menschen vor, regelmäßig Sport zu machen und schaffen es doch nicht? Warum tun uns Verluste mehr weh, als uns Gewinne gleichen Umfangs erfreuen? Prof. Dr. Mario Mechtel gibt einen Einblick in die Verhaltensökonomik und zeigt verblüffende Experimente auf.

Die Verhaltensökonomik ist eine verhältnismäßig junge Teildisziplin der Volkswirtschaftslehre, obwohl ihre Wurzeln bereits auf Adam Smith (1776) zurückgehen. Sie ist etwa ab den 1970er Jahren entstanden, insbesondere inspiriert durch Forschungsergebnisse in der Psychologie. Verhaltensökonomen haben gezeigt, dass menschliches Verhalten in vielen Dimensionen von dem abweicht, was die neoklassische ökonomische Theorie unterstellt. Im Mittelpunkt des neoklassischen Verhaltensmodells steht der Homo oeconomicus. Er ist ein sehr vereinfachtes Modellwesen, das stets rational handelt, nach Eigennutz strebt und eine unbegrenzte Willenskraft hat. Mit dieser stilisierten Modellierung lässt sich menschliches Verhalten in vielen Fällen überraschend gut vorhersagen. Allerdings haben Verhaltensökonomen nachgewiesen, dass Menschen immer wieder systematische Fehler bei der Informationsverarbeitung machen, weniger stark auf den eigenen monetären Vorteil bedacht sind und sich manchmal Dinge vornehmen, die sie dann doch nicht umsetzen. Die Verhaltensökonomik bezieht diese Aspekte menschlichen Verhaltens mit ein und ergänzt damit das ökonomische Standardmodell in wichtigen Punkten.

So hat beispielsweise ein Team um den Verhaltensökonomen Dan Ariely in einem Laborexperiment untersucht, welche Rolle es für die Arbeitsmotivation spielt, wenn die Tätigkeit komplett sinnlos ist. Die Probanden, zufällig aufgeteilt in eine Kontroll- und Programmgruppe, hatten die gleiche Aufgabe: Sie sollten Lego-Modelle zusammenbauen. Während die gebauten Modelle der Probanden in der Kontrollgruppe gut sichtbar auf einem Tisch gesammelt wurden, zerstörten die Experimentleiter die Modelle der Programmgruppe sofort nach der Fertigstellung. Sie mussten sozusagen einer Sisyphos-Aufgabe nachgehen. Alle anderen Aspekte, also der Versuchsaufbau, die Bezahlung etc. unterschieden sich nicht zwischen Kontroll- und Programmgruppe. Auf diese Weise konnten die Forscher feststellen, dass die Sinnhaftigkeit der Tätigkeit bei gleicher Bezahlung eine große Rolle für die Arbeitsmotivation spielt. In den letzten Jahren werden zunehmend experimentelle Studien im „Feld“, also im natürlichen Umfeld der Probanden durchgeführt, um zu sehen, inwieweit sich die im Labor gemachten Beobachtungen auf Kontexte außerhalb des Labors übertragen lassen.

Vielleicht kennen Sie den sogenannten Marshmallow-Test aus der Werbung oder aus Online-Videos. In diesem Experiment werden Menschen, oftmals Kinder, alleine in einen Raum gesetzt. Vor ihnen eine verlockende Belohnung, zum Beispiel eine Süßigkeit – im Original ein Marshmallow, daher der Name des Tests. Die Regel ist einfach: Wenn die Person es schafft, das Marshmallow nicht zu essen, bis der Experimentator den Raum betritt, bekommt sie als Belohnung ein weiteres Marshmallow. Die Versuchspersonen haben also die Wahl zwischen einer unmittelbaren kleinen Belohnung (ein Marshmallow) und einer größeren Belohnung (zwei Marshmallows) etwas später. Wie schwer vielen dieses Warten fällt, lässt sich nicht zuletzt in den erwähnten Videos sehen. In Anlehnung an den Marshmallow-Test lässt sich die Geduld von Menschen natürlich auch graduell messen. Diese experimentellen Tests sind verblüffend gut in der Lage Verhalten im richtigen Leben vorherzusagen. Zahlreiche Studien zeigen, dass im Experiment als ungeduldiger gemessene Menschen im Schnitt weniger Ersparnisse bilden, häufiger Übergewichtsprobleme haben, mit höherer Wahrscheinlichkeit arbeitslos werden, zu mehr Kriminalität neigen und weniger Stabilität in ihren privaten Beziehungen aufweisen (bei Interesse an dieser Thematik empfiehlt Herr Mechtel das Buch „Die Entdeckung der Geduld: Ausdauer schlägt Talent“ von Matthias Sutter, erschienen bei Ecowin in der 2. Auflage 2018).

Die Verhaltensökonomik hat die Rolle von Zeitpräferenzen für individuelle Entscheidungen intensiv untersucht und dabei insbesondere ein Phänomen in den Mittelpunkt gestellt, das dem Homo oeconomicus nie passieren würde: Menschen handeln zeitinkonsistent. Sie nehmen sich heute vor, zukünftig mehr Sport zu machen – und liegen am nächsten Abend doch wieder auf dem Sofa vor dem Fernseher. Wenn Sie mit Ihren Schülerinnen und Schülern testen möchten, ob deren Verhalten zeitinkonsistent ist, eignet sich ein ganz simples Experiment (die Ergebnisse des Experiments werden belastbarer, wenn die Probanden den Anreiz haben, sich gemäß ihrer wahren Präferenzen zu verhalten (Anreizkompatibilität). Wenn Sie das Experiment in Ihrer Klasse durchführen, könnten Sie daher ankündigen, im Anschluss eine Schülerin oder einen Schüler zufällig auszulosen, deren bzw. dessen Entscheidung Sie wirklich auszahlen). Stellen Sie sie vor die Wahl, ob sie lieber heute 10 Euro bekommen möchten oder morgen 11 Euro. Und dann fragen Sie sie in einer zweiten Entscheidung, ob sie lieber in einem halben Jahr 10 Euro oder in einem halben Jahr und einem Tag 11 Euro erhalten möchten. Es gibt bei dieser Entscheidung kein „richtig“ oder „falsch“ – geduldigere Menschen ziehen die 11 Euro mit etwas höherer Wartezeit vor; ungeduldigere die schnelleren 10 Euro. Faszinierend ist, dass es zahlreiche Menschen gibt, die sich bei der ersten Wahl für 10 Euro heute, bei der zweiten aber für 11 Euro in einem halben Jahr und einem Tag entscheiden. Dieses Muster hingegen ist nicht konsistent. Für wen es sich bei der zweiten Entscheidung lohnt, einen Tag auf den einen zusätzlichen Euro zu warten, der sollte auch heute bereit sein, auf den einen Euro bis morgen zu warten. Der Grund dafür, dass dies vielen Menschen nicht gelingt, liegt in deren Impulsivität. Diese Impulsivität ist es auch, die die Kinder direkt zum ersten Marshmallow greifen lässt. Mehr über diese intertemporalen Entscheidungen und weitere spannenden Themen der Verhaltensökonomik erfahren Sie in unserem Lehrvideo!

Über den Autor
Mario Mechtel ist Juniorprofessor für Volkswirtschaftslehre, insb. Mikroökonomik an der Leuphana Universität Lüneburg. Seine Forschungsinteressen liegen vor allem auf den Gebieten Applied Microeconomics, Behavioral Economics, Social Identity, Labour Economics sowie Organizational, Managerial and Personnel Economics.

Tipp

Material des Monats: Wir sind keine rationalen Nutzenmaximierer – Erkenntnisse der Verhaltensökonomie
Digitale Zusatzmaterialien: Animationsvideo „Besitztumseffekt und Verlustaversion“

Alle Artikel aus der Rubrik „Aktuelles“ im Überblick