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Mehrwertsteuer rauf oder runter?

Die Mehrwertsteuer für Gemüse soll runter und die für Fleisch rauf. Das forderte kürzlich Landwirtschaftsminister Cem Özdemir (Grüne). Kein neuer Kniff. Ob Corona oder Inflation: Der Ruf nach einem Aussetzen oder Absenken der Mehrwertsteuer wird immer wieder laut. Was soll, was kann das bringen und was nicht? Wirtschaftsjournalistin Pauline Schinkels hat die Debatte in Anlehnung an das Material des Monats analysiert.

Von einer historischen Herausforderung sprach Bundeskanzler Olaf Scholz – und meinte damit die Inflation. Im Juli lag die bei 7,5 Prozent. Vieles ist teurer geworden, entsprechend mies ist die Kauflaune der Deutschen. Grund dafür sind die seit Beginn des Krieges in der Ukraine gestiegenen Energiepreise. Auch Nahrungsmittel verteuerten sich überdurchschnittlich. Seitdem wird darüber diskutiert, wer unterstützt werden soll – und wie. Zwei Entlastungspakete hat die Bundesregierung bereits auf den Weg gebracht und 9-Euro-Ticket und Tankrabatt dämpften die Inflation bereits etwas, im Juni hatte die noch bei 7,6 Prozent und im Mai bei 7,9 Prozent gelegen.

Einigen geht das nicht weit genug: So hatte Bundesagrarminister Cem Özdemir Anfang Juni gefordert, Obst, Gemüse und Hülsenfrüchte wegen der starken Teuerung von der Mehrwertsteuer zu befreien. Das schaffe nicht nur einen Anreiz für eine gesündere Ernährung. Es entlaste auch einkommensschwache Haushalte, argumentierte der Grünen-Politiker.

Die Mehrwertsteuer absenken oder ganz aussetzen: Mit diesem Wunsch ist Özdemir nicht allein. Krankenkassen fordern eine ermäßigte Mehrwertsteuer für Medikamente, das Gastgewerbe eine dauerhafte für Speisen und die CDU will Gas von der Mehrwertsteuer befreien. Aber was könnte das angesichts der Inflation bringen und wem hilft das?

Grundsätzlich belastet die Mehrwertsteuer ärmere Haushalte im Verhältnis zu ihrem Einkommen deutlich stärker als reiche. Sie geben anteilig mehr von ihrem Einkommen für ihren Grundbedarf aus – also für Wohnen, Heizen oder Essen. Mit zunehmendem Einkommen verringert sich der Anteil an diesen Konsumausgaben, Ökonom:innen sprechen von einem regressiven Belastungsverlauf. Anders verhält es sich bei der Einkommensteuer, deren Satz mit der Gehaltsklasse steigt. Wer mehr verdient, wird progressiv auch stärker belastet. Beide Steuern, die Mehrwertsteuer und die Einkommensteuer, sind eine wichtige Einnahmequelle für den Staat. Die Einkünfte aus den Steuern erhöhten sich 2021 im Vorjahresvergleich deutlich. Die Einnahmen aus der Mehrwertsteuer, die im Coronajahr 2020 für sechs Monate abgesenkt worden war, kletterten um 14,3 Prozent und lagen bei rund 187,6 Milliarden Euro. Die staatlichen Einnahmen aus der Einkommensteuer stiegen um 14,8 Prozent. Insgesamt nahm der Staat 833,2 Milliarden Euro Steuern ein, im Vor-Coronajahr 2019 waren es knapp 800.

Braucht es eine umweltorientierte Reform der Mehrwertsteuer?

Aber warum beträgt etwa die Mehrwertsteuer auf Süßkartoffeln 19 Prozent, auf Trüffel aber nur sieben? Das Umweltbundesamt (UBA) sieht darin keinen Sinn und forderte im Juni eine umweltorientierte Reform der Mehrwertsteuer. Die sei in Deutschland ein Wildwuchs an Einzelregelungen, die zudem ökologische Belange nicht berücksichtigen, kritisierte die Behörde. Geht es nach dem UBA, soll sich die Mehrwertsteuer künftig stärker an ökologischen und sozialen Kriterien ausrichten, um ärmere Haushalte zu entlasten – und gleichzeitig CO2-Emissionen zu sparen. Was umweltschädlich ist soll teurer, was umweltfreundlich ist günstiger werden. Konkret sollen pflanzliche Grundnahrungsmittel wie Obst, Gemüse, Getreideerzeugnisse und pflanzliche Öle sowie der öffentliche Personenverkehr von der Mehrwertsteuer befreit werden. Und Fleisch und andere tierische Produkte sollen statt des ermäßigten Steuersatzes von sieben Prozent künftig mit dem regulären Satz von 19 Prozent besteuert werden – ähnlich wie es auch zuvor Landwirtschaftsminister Özdemir gefordert hatte. Außerdem plädiert das UBA dafür, Solaranlagen von der Mehrwertsteuer zu befreien und energetische Sanierungen von Gebäuden und Wohnungen mit dem ermäßigten Steuersatz von sieben statt 19 Prozent zu begünstigen. Hintergrund des Vorschlages sind auch aktuelle Änderungen im Europarecht, die die Vorschläge rechtlich absichern.

Bevormundend, kompliziert, unumkehrbar finden die einen

Kritik kam prompt. „Wir halten nichts davon, den Kund:innen über die Höhe der Mehrwertsteuer eine bestimmte Art der Ernährung nahezulegen“, sagte etwa der Hauptgeschäftsführer des Handelsverbands Deutschland (HDE), Stefan Genth, dem Handelsblatt. Das Mehrwertsteuerrecht sei schon kompliziert. Der UBA-Vorschlag würde es noch weiter verkomplizieren – und das koste die Unternehmen am Ende nur Nerven und Geld. Auch der Bauernverband lehnte eine Mehrwertsteuerbefreiung bei bestimmten Nahrungsmitteln ab. Und der Vorsitzende der Deutschen Steuer-Gewerkschaft, Thomas Eigenthaler, kritisierte, dass die Änderungen der EU-Mehrwertsteuerrichtlinie zwar Ausnahmen zuließen, aber nicht in einem solchen Ausmaß. Und wie soll es danach weitergehen? „Das Problem einer befristeten Senkung der Mehrwertsteuer liegt dann in der Bestimmung des richtigen Zeitpunktes der Wiederanhebung, den man nicht ex ante kennt“, sagte Michael Hüther, Chef des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW), der Rheinischen Post. Eine Absenkung der Mehrwertsteuer müsse man daher „gegebenenfalls als dauerhaft begreifen“.

Gerecht, schnell und unbürokratisch sagen die anderen

Unterstützung kommt vom Ökonomen Marcel Fratzscher. Der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) ist für eine temporäre Abschaffung des reduzierten Mehrwertsteuersatzes von sieben Prozent. Dadurch würden „vor allem Lebensmittel und andere Dinge der Grundversorgung günstiger“. Dies helfe den Menschen schnell und unbürokratisch. Auch der Spitzenverband der Wohnungswirtschaft (GdW) und der Bundesverband Solarwirtschaft (BSW) begrüßten die Ideen des UBA. Allerdings bergen diese auch Risiken. Das DIW ermittelte, dass die vorübergehende Mehrwertsteuersenkung in der zweiten Jahreshälfte 2020 die Wirtschaftsleistung in Deutschland zwar um 0,5 Prozent erhöhte. In vielen Fällen handelte es sich dabei allerdings um vorgezogene und nicht um zusätzliche Käufe – entsprechend geringer war die Nachfrage im Folgejahr.

Statt die Mehrwertsteuer zu senken, hatte der DIW-Ökonom Alexander Kriwoluzky die Zahlung einer Pauschale vorgeschlagen, um gezielt Menschen mit geringen Einkommen zu entlasten. Weil die im Vergleich zu einkommensstärkeren Haushalten weniger Geld für Lebensmittel ausgeben würden. „Sinnvoll wäre eine einmalige Lebensmittelpauschale von 100 Euro für Transferempfänger“, sagte der Leiter der Abteilung für Makroökonomie dem Tagesspiegel.

Werden einkommensschwache Haushalte so entlastet?

Der Durchschnittshaushalt gibt monatlich 62 Euro für Obst, Gemüse und Kartoffeln aus. Diese Zahl hat das Statistische Bundesamt (Destatis) vergangenes Jahr für das Jahr 2018 ermittelt. Journalist:innen der Zeit überschlugen anhand dieser Zahl grob den Spareffekt einer gestrichenen Mehrwertsteuer und kamen auf etwa vier Euro und hielten fest: „Das wäre ein Symbol, ein zarter Anreiz für etwas mehr gesunde Ernährung. Aber kein Mittel gegen die Inflation.“

Helfen könnte mehr Gelassenheit in der Debatte. In der Süddeutsche Zeitung plädierte der Wirtschaftsjournalist Harald Freiberger kürzlich für weniger Inflations-Panik. Gefährlich werde Inflation dann, wenn sie eine Eigendynamik entwickele und jeder die Preise erhöhe, weil es die anderen ja auch machten. Nicht alle Preissteigerungen seien transparent und basierten auf höheren Herstellungskosten, mahnten Verbraucherschützer:innen kürzlich: „Ein kritischer Blick der Politik und des Kartellamtes auf die Handelsunternehmen und einen Teil der Lebensmittelhersteller wäre nötig, um zu prüfen, ob einige die Gunst der Stunde nutzen, um die eigenen Erträge zu verbessern.“

Inzwischen steuert auch die EZB gegen, sie erhöhte nach elf Jahren erstmals dem Leitzins von null auf 0,5 Prozent. Auf eine schnelle Entspannung bei den Preisen können Verbraucher:innen allerdings auch nach der Zinserhöhung nicht hoffen.

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