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Ultra Fast Fashion: Billigkleidung zulasten von Umwelt und Beschäftigten?

Onlineplattformen wie Shein und Temu verkaufen Kleidungsstücke mit trendigen Designs zu Tiefstpreisen – und erzielen damit Rekordumsätze. Wie das Geschäftsmodell funktioniert und warum Nichtregierungsorganisationen scharfe Kritik üben, beleuchtet Wirtschaftsjournalist Steffen Ermisch.

Den Zehnerpack Boxershorts gibt es für 12 Euro, die Jeans für 14 Euro, das Abendkleid für 13 Euro: Mit Tiefstpreisen gehen in China gegründete Onlineplattformen wie Shein, Temu und Aliexpress auf Kundenfang. Versendet wird aus Zentrallagern in den Produktionsländern oder direkt aus den Fabriken – lange Planungsvorläufe und eine komplexe Filiallogistik wie bei traditionellen Modeketten gibt es nicht: „Algorithmen erkennen Trends in sozialen Medien, Kollektionen werden mithilfe Künstlicher Intelligenz angepasst und flexible Lieferketten sorgen für schnelle Verfügbarkeit“, sagt Branchenexperte Christian Kirschniak, Partner der Unternehmensberatung Boston Consulting Group (BCG).

Extrem günstig, immer am Puls der Zeit: Das Geschäftsmodell der Plattformen wird häufig als „Ultra Fast Fashion“ bezeichnet – es ist eine Steigerung des Begriffs „Fast Fashion“, der sich für Modeketten wie H&M, Zara und Primark seit den 1990er Jahren etabliert hat. Schon die waren für schnelle Kollektionswechsel und eine Produktion in Niedriglohnländern bekannt. Und wirken gegen die reinen Onlineanbieter nun geradezu behäbig. Während Unternehmen wie H&M mehrere Wochen brauchen, um neue Designs in die Filialen zu bringen, landen bei Shein und Temu täglich mehrere Tausend neue Artikel. Bei Verbraucherinnen und Verbrauchern kommt das offenbar gut an. Allein Shein hat laut der „Financial Times“ im vergangenen Jahr umgerechnet 34 Milliarden Euro umgesetzt – und damit H&M (gut 20 Milliarden Euro) hinter sich gelassen.

Doch mit dem Erfolg der neuen Modehändler wächst die Kritik. Durch Ultra Fast Fashion werde der Druck auf Beschäftigte entlang der Mode-Lieferkette immer größer, kommentiert etwa die Nichtregierungsorganisation Inkota. „Für gute Arbeitsverhältnisse und Umweltschutz bleibt da keine Zeit.“ Die Waren seien qualitativ minderwertig, Reparaturen lohnten sich nicht. Shein streitet die Vorwürfe regelmäßig ab. Man trage dazu bei, „dass es nicht mehr nur das Anrecht der Privilegierten ist, etwas Modisches, Hübsches und Trendiges zu tragen“, sagte Donald Tang, der das inzwischen in Singapur ansässige Unternehmen als Executive Chairman nach außen repräsentiert, in einem Interview mit dem „Handelsblatt“. Was ist dran an den jeweiligen Positionen?

Geringere Preise, größere Mengen

Beim Blick auf die Konsumentenseite ist unbestritten: Die neuen Tiefstpreise sorgen tatsächlich dafür, dass sich mehr Menschen mehr Kleidungsstücke leisten können. Allerdings lebt „Ultra Fast Fashion“ längst nicht nur von Kundinnen und Kunden, die jeden Cent umdrehen müssen. Das Interesse steige über alle Einkommensgruppen hinweg, stellte BCG in einer internationalen Verbraucherbefragung fest. Heißt: Auch Menschen mit prall gefüllten Kleiderschränken greifen beherzt zu. Sie können vorhandene Hosen, Shirts oder Röcke nun noch schneller durch Neuware mit aktuell angesagten Designs ersetzen. Manche Kleidungsstücke werden Umfragen zufolge sogar nur für einen Anlass gekauft und dann entsorgt.

Statistiken deuten darauf hin, dass der Modekonsum längst über ein nachhaltiges Maß hinaus gestiegen ist. In der EU hat laut der Europäischen Umweltagentur (EEA) jeder Bürger im jüngsten Vergleichsjahr 2022 im Schnitt 19 Kilogramm Kleidung und Haushaltstextilien gekauft. Im selben Jahr wurden pro Kopf 16 Kilogramm weggeschmissen. Aus Umweltgesichtspunkten ist das verheerend – denn die Modebranche ist gilt als extrem ressourcenintensiv. Aussortierte Textilien werden größtenteils nicht recycelt, sondern verbrannt – oder exportiert: In Ländern wie Ghana oder Chile türmen sich Berge von Altkleidern, die sogar auf Satellitenbildern deutlich zu sehen sind.

Shein setzt auf kleine Auflagen

Die Onlineplattformen selbst sehen sich als Problemlöser. „Wir produzieren die Designs, die sich unsere Kunden wünschen, in kleinen Auflagen, in Mikrofertigung“, erklärt Shein-Manager Tang. Hergestellt werde nur, was nachgefragt werde. Kritiker halten das für Augenwischerei. Sie verweisen darauf, dass Shein, Temu, Wish und Aliexpress in ihren Apps mit manipulativen Bannern, Dutzenden Rabatten und Spielelementen zu Impulskäufen verleiten. Nachgewiesen wurden solche „Dark Patterns“ etwa in einer Untersuchung des Verbraucherzentrale Bundesverbands . Die Plattformen bedienen zudem nicht nur Trends, sondern setzen sie auch – mit einem umfassenden Influencer-Marketing auf Social-Media-Plattformen.

„Wenn die Kundschaft nur zweimal im Jahr etwas bei Shein kaufen würde, dann würde dieses Geschäftsmodell zusammenklappen“, sagt David Hachfeld, Textilexperte bei Public Eye in einem Podcast der Schweizer Organisation. Für ständige Neubestellungen sorgten neben dem Marketing die geringe Qualität der Produkte, die auch in unabhängigen Tests immer wieder bemängelt wird. So hat Ökotest Ende 2024 bei Shein bestellt. Von den 21 untersuchten Kleidungsstücken gingen viele nach wenigen Waschgängen kaputt. Zudem fanden die Tester teils hochgiftige Chemikalien.

75 Stunden pro Woche an der Nähmaschine

Gespart wird aber nicht nur an der Qualität. Die niedrigen Preise müssen zulasten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gehen, sind Kritiker überzeugt. Vor-Ort-Recherchen von Public Eye, aber auch der britischen BBC, deuten auf eine systematische Ausbeutung in Produktionsbetrieben und Logistikzentren von Shein in China hin: Wochenarbeitszeiten von 75 Stunden sind demnach die Regel. Fixe Löhne gibt es nicht, stattdessen werden die Näherinnen und Näher pro Stück bezahlt. Shein selbst hat zudem bereits Fälle von Kinderarbeit bei Zuliefern festgestellt.

Das Unternehmen verspricht, seine mehr als 5.500 Zulieferer stärker zu kontrollieren und weist Vorwürfe des Lohn-Dumpings weit von sich. Man zahle mehr als andere globale Akteure, behauptet Shein-Manager Tang. Auch Kritiker wie Hachfeld bestätigen, dass einzelne Beschäftigte auskömmliche, teils sogar überdurchschnittliche Monatslöhne erhalten – hinter denen aber eben extreme Arbeitszeiten stünden. Wirtschaftliche Not und schlechte Sozialsysteme treiben Menschen dazu, diese Jobs anzunehmen.

Zum Gesamtbild gehört aber auch: Die Produktionsbedingungen in der Textilbranche gelten nicht erst seit gestern als miserabel. Zu einem Symbol wurde 2013 der Gebäudeeinsturz der Rana-Plaza-Textilfabrik in Bangladesch, in der unter anderem für Primark, KiK und C&A produziert wurde. Mehr als 1.100 Menschen starben. Die Empörung damals war groß – die strukturellen Probleme sind geblieben. „Mehr, schneller und billiger“ seien weiterhin die treibenden Geschäftsmodelle in der Modebranche, kritisiert Public Eye.

Gesetze sollen Fast Fashion eindämmen

Dabei wollte die Politik gegensteuern. Unter dem Eindruck des Rana-Plaza-Unglücks sind das deutsche und das EU-weite Lieferkettengesetz entstanden. Ersteres gilt seit Januar 2023 für deutsche Unternehmen, letzteres soll ab 2028 greifen – und trifft auch Firmen aus Drittstaaten. Beide Regelwerke verpflichten Unternehmen dazu, Sozial- und Umweltstandards von Zulieferern zu prüfen. Nichtregierungsorganisationen sehen darin ein wirksames Instrument. Doch nach Protesten von Wirtschaftsverbänden will die neue Bundesregierung das deutsche Gesetz abschaffen – und setzt sich für eine Aufweichung der EU-Vorgaben ein.

Geht es nach Brüssel, gelten für Modekonzerne künftig indes auch strengere Umweltauflagen. Vor drei Jahren wurde eine Strategie für nachhaltige und kreislauffähige Textilien vorgestellt. Die Ziele: „Bis 2030 sind die Textilerzeugnisse auf dem EU-Markt langlebig und recyclingfähig, bestehen größtenteils aus Recyclingfasern, enthalten keine gefährlichen Stoffe und werden unter Einhaltung der sozialen Rechte und im Sinne des Umweltschutzes hergestellt.“ Konkrete Maßnahmen werden noch erarbeitet – in einem ersten Schritt sollen Textilien und andere Produkte einen QR-Code mit Informationen zu Materialzusammensetzung, Recyclinganteil, Reparierbarkeit, CO₂-Fußabdruck enthalten.

Gezielt an junge Menschen richtet sich die 2023 gestartete Kampagnen „ReSet The Trend“: in sozialen Medien macht die EU-Kommission auf den problematischen Überkonsum von Kleidung aufmerksam und will nachhaltigeren Alternativen eine Bühne geben. Ob das für eine Trendumkehr ausreicht, ist fraglich – zumal westliche Onlinehändler Shein und Temu nacheifern. So hat Amazon im November 2024 in den USA einen Billigableger namens Amazon Haul gestartet und rollt das Modell in anderen Märkten aus. Und auch der deutsche Online-Modehändler About You will künftig auf günstige Direktlieferungen aus Fabriken sowie KI-Optimierungen setzen.

Tipp

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