Europas Unternehmen fallen im internationalen Vergleich zurück. Die EU-Kommission hat Anfang dieses Jahres einen "Kompass für Wettbewerbsfähigkeit" vorgestellt. Worauf kommt es nun an, fragt Wirtschaftsjournalist Andreas Schulte.
"Nicht wettbewerbsfähig", dieses Etikett haftet Thyssenkrupp Steel Europe (TKSE) unter Experten bereits seit einigen Jahren an. Zuletzt attestierte selbst der eigene Vorstand Dennis Grimm öffentlich: "TKSE muss seine Wettbewerbsfähigkeit verbessern." Die Gründe dafür sind vielfältig: Die Produktionsanlagen der Stahlsparte im Thyssenkrupp-Konzern in Duisburg sind aufgrund ausgebliebener Investitionen veraltet. Die deutsche Autoindustrie als Hauptabnehmer schwächelt. Und schließlich fluten chinesische Stahlhersteller den internationalen Markt mit billigem Stahl. Denn in China haben staatlich geförderte Unternehmen Überkapazitäten aufgebaut. Die müssen jetzt raus aus den Lagern. Günstiger ist der Stahl aus China auch, weil Strom in Europa deutlich mehr kostet.
TKSE wehrt sich gegen die ungünstige Marktlage. Grüner Stahl soll die Zukunft des Industriebetriebs sichern. Die Hoffnung: Dieser mit Wasserstoff produzierte Stahl wird sich aufgrund seiner Klimaneutralität am internationalen Markt durchsetzen. Doch die neue Produktionsmethode muss sich erst bewähren. Der Bau der Anlage hinkt bereits hinter dem ursprünglichen Zeitplan hinterher. Vor Ende 2027 wird hier kein grüner Stahl das Werk verlassen. TKSE schreibt also auch in diesem Jahr rote Zahlen. Den Preis dafür zahlen die Beschäftigten: Die Konzernspitze hat einen Schrumpfkurs angeordnet. Etwa 11.000 von 27.000 Stellen werden wohl bis zum Jahr 2030 wegfallen.
Der Fall TKSE zeigt exemplarisch die Probleme von deutschen und europäischen Unternehmen. Denn ob wegen schwindender Innovationskraft, Abhängigkeiten von einzelnen Märkten und Branchen oder des schleppenden Wandels hin zu grünen Produktionsmethoden: Wie TKSE hinken etliche europäische Unternehmen ihren US-amerikanischen und chinesischen Konkurrenten hinterher. Die EU will dies ändern. Schon im vergangenen Jahr hatte der sogenannte Draghi-Bericht der EU auf 320 Seiten Europas wirtschaftliche und institutionelle Schwächen analysiert. Ende Januar dieses Jahres legte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen mit dem "Kompass für Wettbewerbsfähigkeit" nach. "Der Kompass macht aus den hervorragenden Empfehlungen des Draghi-Berichts einen Fahrplan", sagte von der Leyen.
Entscheidend ist die Umsetzung
Aber welche Handlungsfelder identifiziert dieser Fahrplan? Welche Maßnahmen sieht er bereits vor? Wie bewerten ihn Experten? Und welchen Beitrag leistet er, um Europa wieder auf Tuchfühlung mit den anderen großen Wirtschaftsräumen zu bringen?
Die Kommission will laut dem Kompass unter anderem Energiekosten senken, den Binnenmarkt stärken, Bürokratie für Unternehmen abbauen und den Zugang zu Subventionen und Investitionen erleichtern.
Im Handlungsfeld Energie will die EU allein mehr als 100 Milliarden aufbringen, damit Unternehmen und Verbraucher:innen langfristig an günstigere Energie gelangen. Mit dem Geld könnten die Länder mehr grünen Strom produzieren. Dies verringert die Abhängigkeit von teuren Rohstoffen und fossilen Energien. Das Geld wird auch in die bevorzugte Verwendung und Produktion von energieeffizienten Produkten wie zum Beispiel LED-Lampen fließen. Branchen, wie etwa die Stahlindustrie, die viel Energie benötigen, sollen bei Modernisierungen finanziell unterstützt werden. Und schließlich empfiehlt die Kommission den Mitgliedstaaten, Stromsteuern zu senken und Netzentgelte zu reformieren. Führende Wirtschaftsexperten begrüßen diese Maßnahmen für diesen von der EU so genannten Clean Industrial Deal: "Der Plan adressiert die wesentlichen notwendigen Punkte", analysieren Experten des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt, Energie. Doch es bleiben Zweifel an der Umsetzung. Der Pferdefuß: Die Mitgliedstaaten müssen sich nicht an den Plan halten. "Wegen der weitgehenden Verlagerung der Verantwortung auf die Mitgliedstaaten bleibt unklar, ob notwendige Mittel auch wirklich mobilisiert werden können", heißt es in der Analyse.
Im Handlungsfeld Binnenmarktstärkung soll eine grenzüberschreitende gemeinsame Infrastruktur für Energie in Europa den Binnenmarkt stärken. Dies will der Kompass auch mit anderen Mitteln erreichen. Richtig so, findet Olaf Bendig, Industrie-Experte bei der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Deloitte. "Der EU-Binnenmarkt ist ein schlafender Riese für die deutsche Industrie. Angesichts zunehmend protektionistischer Tendenzen im Welthandel kann die Industrie in Deutschland einen Wachstums-Boost aus Brüssel gut gebrauchen." Dazu beitragen soll laut dem Kompass der Ausbau einer Kreislaufwirtschaft und die Erhöhung der Recyclingquote. Gemeinsam könnten diese Wirtschaftsformen die Abhängigkeit von Rohstoffen außereuropäischer Länder verringern. Neue Handelsabkommen sollen zudem den Warenverkehr mit außereuropäischen Ländern erleichtern.
Im Handlungsfeld Bürokratie-Abbau hatte der Kompass als weiteres Hemmnis auf dem Weg zu mehr Wettbewerbsfähigkeit und als Schwächung des Binnenmarkts übermäßige bürokratische Pflichten bei europäischen Firmen ausgemacht. Dies geht zulasten der Produktivität und ist teuer. Vor allem bei innereuropäischen Exporten klagen Unternehmen über Ärgernisse. Zwar gibt es keine Zölle, aber Unternehmen monieren beispielsweise doppelte Berichtspflichten, etwa bei der Einhaltung von Klimazielen und mehrsprachige Ausfuhrbescheinigungen beim grenzüberschreitenden Handel. Eine Studie von Deloitte zeigt: Kosten durch Handelshemmnisse in Europa sind ähnlich hoch wie Zölle in anderen Regionen.
Was gilt noch der Green Deal?
Der Kompass schlägt eine Radikalkur vor mit dem Ziel, den gesamten Verwaltungsaufwand für Unternehmen um mindestens 25 Prozent, bei kleinen und mittelständischen Unternehmen (KMU) um mindestens 35 Prozent, zu senken. Bereits einen Monat nach der Verkündung des Kompasses hat die EU mit dem sogenannten Omnibus-Vorschlag konkretisiert, wie das gehen kann. So sollen laut EU die verpflichtenden Dokumentationen über Nachhaltigkeit und Lieferketten zunächst ausgesetzt werden. Außerdem werden kleine Firmen von ihnen befreit und weniger Unternehmen als bislang zu Berichterstattung verpflichtet sein. Kritiker sehen darin eine Abkehr der EU von ihren Plänen des Green Deals, mit dem die Kommission Europa bis zum Jahr 2050 zum ersten klimaneutralen Kontinent machen will. "Unter dem Deckmantel des Bürokratieabbaus entpuppt sich das Omnibus-Verfahren als massiver Rückschritt für Menschenrechte, Nachhaltigkeit und als Gift für die Modernisierung der europäischen Wirtschaft", sagt Katharina Reuter vom Bundesverband Nachhaltige Wirtschaft. Auch die Umweltorganisationen WWF klagte, der Kompass stelle Deregulierung über den Klimaschutz.
Handlungsfeld Subvention und Investition: Es bleibt die Frage, wie die EU ihre im Kompass vorgestellten Pläne finanzieren will. Denn die Stärkung der Binnenmärkte, Investitionen in Infrastruktur, Förderungen für Unternehmen – dies alles kostet. Im Kompass schlägt von der Leyen daher einen riesigen Fonds für Wettbewerbsfähigkeit vor. Im Raum stehen rund 800 Milliarden Euro. Mit diesem Geld sollen mit der nächsten Haushaltsperiode ab 2028 nicht nur strategische Investitionen in Zukunftstechnologien wie etwa künstliche Intelligenz vorangetrieben werden. Der Fonds soll auch Programme umfassen, die indirekt der Wettbewerbsfähigkeit dienen – also etwa auch Forschungsprogramme, Digitalförderprogramme und Investitionshilfen.
Erst im kommenden Sommer wird von der Leyen ihre Pläne konkretisieren, doch schon jetzt macht sich Kritik breit – auch aus den eigenen Reihen. Von der Leyens Parteigenosse, Siegfried Mureșan (EVP) bemängelt, dass eine solche Vereinheitlichung dazu führen könne, dass regionale und branchenspezifische Besonderheiten zu wenig berücksichtigt werden.
Material des Monats: Verliert die EU den Anschluss? – ein Plan für mehr Wettbewerbsfähigkeit
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