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Kein Wachstum ohne Migration?

Gerade hat der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Lage in seinem Jahresgutachten die langfristige Wachstumsprognose bis 2030 nach unten korrigiert. Nach Einschätzung des Expertengremiums wirkt sich zukünftig vor allem der Faktor Arbeit wachstumshemmend aus, da er das gesamtwirtschaftliche Produktionspotenzial dämpft. Warum das so ist und wie mithilfe von Erwerbsmigration gegengesteuert werden könnte, erläutert Dr. Angelina Hackmann vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW).

Auf dem deutschen Arbeitsmarkt treffen in Zukunft zwei Entwicklungen aufeinander: Einerseits dürfte die gesamtwirtschaftliche Aktivität in Deutschland nach einer längeren rezessiven Phase, gestützt vor allem durch eine expansive Finanzpolitik, in den kommenden Jahren wieder anziehen. Damit dürfte auch die Nachfrage nach Arbeitskräften zunehmen und die mittlerweile deutlich gestiegene Arbeitslosigkeit sinken. Andererseits stößt diese Erholung zunehmend auf strukturelle Grenzen. Denn mittelfristig ist ein Rückgang des Erwerbspersonenpotenzials, also die Gesamtheit aller Personen im erwerbsfähigen Alter, die dem Arbeitsmarkt grundsätzlich zur Verfügung stehen, absehbar. Neben dem bereits spürbaren Fachkräftemangel in zahlreichen Branchen – etwa im Gesundheitswesen, im Baugewerbe oder in technischen Berufen – kommt dann ein breit angelegter Arbeitskräftemangel hinzu.

Engpass an verfügbaren Arbeitskräften absehbar

Der Grund für den Rückgang des Erwerbspersonenpotenzials ist die demographische Entwicklung in Deutschland. Diese wird neben einer steigenden Lebenserwartung und sinkenden Geburtenraten dadurch bedingt, dass die Babyboomer-Generation – die geburtenstarken Jahrgänge der 1960er Jahre – nun zunehmend die Regelaltersgrenze erreicht und damit aus dem Erwerbsleben ausscheidet. Laut der moderaten Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamts sinkt die Bevölkerung mittleren Alters (20 bis 66 Jahre) bis 2040 um 3,5 Millionen Menschen, während die Zahl der über 67-Jährigen von 16,4 auf 20,8 Millionen steigt. Diese Alterung wirkt sich unmittelbar auf den Arbeitsmarkt aus: Im Gesundheits- und Sozialwesen müssen bis 2040 rund 600.000 neue Stellen geschaffen werden, um den steigenden Pflegebedarf zu decken, während die Zahl der Erwerbstätigen im Verarbeitenden Gewerbe um 700.000 sinkt (BIBB/IAB-Qualifikations- und Berufsfeldprojektionen).

Der Engpass an verfügbaren Arbeitskräften droht zu einem zentralen Wachstumshemmnis zu werden und limitiert das Produktionspotenzial Deutschlands. Das Produktionspotenzial gibt an, wie stark eine Wirtschaft langfristig wachsen kann, ohne Inflationsdruck zu erzeugen, und wird maßgeblich durch strukturelle Faktoren wie das Arbeitskräfteangebot, den Kapitalstock und den technologischen Fortschritt bestimmt. Zwischen 1996 und 2024 wuchs das Produktionspotenzial noch um durchschnittlich 1,2 Prozent jährlich. Für die Jahre 2024 bis 2030 wird von den führenden deutschen Wirtschaftsforschungsinstituten nur noch ein Anstieg von 0,3 Prozent erwartet. Den Berechnungen zufolge dürfte der Beitrag des Faktors Arbeit – also der gesamten in der Wirtschaft geleisteten Arbeitsstunden – künftig negativ ausfallen. Welchen Einfluss Migration auf den Faktor Arbeit und somit auf das Wachstum der deutschen Wirtschaft hat, zeigt sich anhand einer Szenario-Berechnung des DIW Berlin: Angenommen die Nettomigration sei in den kommenden Jahren Null, also die Zahl der Zuzüge aus dem Ausland entspreche der Zahl der Abwanderungen in das Ausland. So würde die Zahl der Erwerbspersonen von derzeit 63,5 Millionen auf unter 62 Millionen im Jahr 2029 fallen, da der negative Saldo zwischen Geburten und Sterbefällen nicht ausgeglichen werden kann. Dies wiederum würde dazu führen, dass die Wachstumsrate des Produktionspotenzials rasch auf null sinken würde.

Migration als Wachstumsmotor

Migration und die damit einhergehende Steigerung des Erwerbspersonenpotenzials wird somit zu einem entscheidenden Faktor für die Stabilisierung der gesamtwirtschaftlichen Produktion. Schon jetzt zeigt sich die Bedeutung von Zuwanderung für die deutsche Wirtschaft: Seit Beginn des Jahres 2023 wird der Aufbau sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung ausschließlich von ausländischen Staatsangehörigen getragen. Während die Zahl der Beschäftigten mit ausländischer Staatsangehörigkeit im zweiten Quartal 2025 um 255.000 im Vergleich zum Vorjahr stieg, sank die Zahl der Beschäftigten mit deutscher Staatsangehörigkeit um 220.000. Ohne diesen Beitrag würde die Zahl der Erwerbstätigen bereits heute sinken.

Gleichzeitig bleibt das inländische Arbeitskräftepotenzial unzureichend genutzt. Ein Teil der Arbeitskräftelücke könnte durch eine höhere Erwerbsbeteiligung von Frauen geschlossen werden. Etwa die Hälfte der Frauen in Deutschland arbeitet in Teilzeit, viele würden ihre Arbeitszeit gern ausweiten. Doch strukturelle Hürden – wie unzureichende Kinderbetreuung, steuerliche Nachteile durch das Ehegattensplitting, geringe Löhne und die Attraktivität von Minijobs – verhindern dies.

Auch unter den bereits in Deutschland lebenden Ausländerinnen und Ausländern besteht ungenutztes Potenzial. Im Juli 2025 lebten rund 3,4 Millionen Schutzsuchende in Deutschland. Eine Studie des IAB (Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung) zeigt, dass Geflüchtete, die seit 2015 eingewandert sind, nach acht Jahren eine Erwerbsquote von 76 Prozent bei Männern erreichen und damit leicht über dem Durchschnitt der männlichen Bevölkerung in Deutschland liegen – ein deutliches Zeichen erfolgreicher Arbeitsmarktintegration. Bei Frauen hingegen liegt diese Quote bei nur 35 Prozent, was etwa der Hälfte des weiblichen Bevölkerungsdurchschnitts entspricht. Ihr Zugang zum Arbeitsmarkt wird vor allem durch Sprachbarrieren, aufwendige Anerkennungsverfahren, Restriktionen im Rahmen traditioneller Familienrollen und fehlende Kinderbetreuungsmöglichkeiten erschwert.

Die Zuwanderung qualifizierter Fachkräfte, deren Ausbildung und Kompetenzen den Bedürfnissen des deutschen Arbeitsmarkts entspricht, bleibt ein entscheidender Faktor. Doch Deutschland lag in einem OECD-Vergleich bei der Attraktivität für hochqualifizierte Fachkräfte nur auf Platz 15 von 38 Ländern. Die Ursachen liegen in strukturellen und gesellschaftlichen Defiziten. Langsame und papierbasierte Visaverfahren, mangelnde Digitalisierung, hohe steuerliche Belastungen und eine teilweise ablehnende Haltung gegenüber Migrantinnen und Migranten mindern die Standortattraktivität. Hinzu kommt, dass viele Fachkräfte mit Abschlüssen außerhalb der EU häufig in Tätigkeiten unterhalb ihres Qualifikationsniveaus beschäftigt sind.

Erforderliche politische Maßnahmen zur Steigerung des Erwerbspersonenpotenzials

Bezüglich des inländischen Erwerbspersonenpotenzials könnte die Erwerbsbeteiligung von Müttern gesteigert sowie die Arbeitszeit von Personen, die in Teilzeit arbeiten, ausgeweitet werden. Dafür müssten Betreuungsplätze ausgebaut und mehr flexible Arbeitszeitmodelle geschaffen werden. . Dazu beitragen könnten zudem eine bessere Bezahlung in sozialen Berufen, steuerliche Anreize für Vollzeitbeschäftigung sowie der Abbau von Fehlanreizen im Minijob-System.

Für Menschen mit Einwanderungs- oder Fluchtgeschichte müssen Integrations- und Bildungsangebote gezielter gestaltet werden. Parallele Sprach- und Berufsausbildung, beschleunigte Anerkennungsverfahren für im Ausland erworbene Abschlüsse und der Ausbau von Kinderbetreuungsangeboten für geflüchtete Familien können die Integration in den Arbeitsmarkt beschleunigen und das verfügbare Arbeitskräfteangebot spürbar erweitern.

Um die Attraktivität für hochqualifizierte Fachkräfte zu erhöhen, bedarf es gezielter Reformen und Investitionen. Ein wichtiger Schritt war dabei die Einführung des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes im Jahr 2020 sowie die seit März 2024 geltenden Neuerungen des Gesetzes. Neu eingeführt wurden u. a. die „Anerkennungspartnerschaft“, die eine Einreise und Beschäftigung schon vor Abschluss des Anerkennungsverfahrens ermöglicht, sowie gesenkte Gehaltsgrenzen und eine Chancenkarte für die Arbeitssuche auf Basis eines Punktesystems. Im Jahr 2024 wurden 79.100 Anträge auf Anerkennung ausländischer Berufsabschlüsse bewilligt – ein Anstieg um 21 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Es gibt jedoch weiterhin Handlungsbedarf: Um qualifizierte Zuwanderung langfristig zu fördern, sollten Visaverfahren vollständig digitalisiert, Anerkennungsprozesse vereinfacht und gezielte Informationskampagnen im Ausland etabliert werden, um Fachkräfte über Chancen in Deutschland zu informieren. Gleichzeitig gilt es, den sozialen und beruflichen Aufstieg zu erleichtern, damit Zugewanderte ihre Kompetenzen umfassend einsetzen können. Eine offene Willkommenskultur bildet die Grundlage: Deutschland muss sich als modernes Einwanderungsland begreifen, das qualifizierte Menschen nicht nur anzieht, sondern ihnen auch langfristige Perspektiven zum Bleiben bietet.

Wenn diese Maßnahmen umgesetzt werden, kann die gezielte Zuwanderung hochqualifizierter Fachkräfte gesteigert und die Arbeitsmarktintegration von Frauen und Geflüchteten deutlich verbessert werden – mit spürbar positiven Effekten für das langfristige Wirtschaftswachstum.

Tipp

Material des Monats: Personalnotstand in der Pflege: Kann Erwerbsmigration helfen?

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